Freitag, 8. Juli 2016

Das Tränentaschentuch

Alte Sitten und Gebräuche aus dem Wittelsbacher Land


Es ist schade um manche im Aussterben begriffene Sitte. Eine ganz reizende Sitte gab es in früheren Zeiten. Heiratete ein junges Mädchen, so erhielt es ein von der Mutter eigenhändig gesponnenes Leinentuch mit, das nur dazu zu dienen hatte, die Tränen der Braut, die sie beim Abschied aus dem Elternhause vergoß, aufzufangen. Nach der Trauung glättete die junge Frau das Tuch und legte es zusammen, um es hinfort als teures Andenken ans Elternhaus und an die Hochzeit an einem bestimmten Platze des Schrankes aufzubewahren. 

Starb dann nach vielen Jahren oder Jahrzehnten die einstmalige Braut – vielleicht als altes, zitterndes Mütterchen, so wurde das Braut- und Tränentaschentuch, das die Mutter der Verstorbenen einst webte, aus dem Schranke genommen und der Toten über das Gesicht gebreitet. Und also, von Mutters Linnen bedeckt, trug man die Entschlafene hinab, dorthin, wo uns allen auszuruhen bestimmt ist.

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