Donnerstag, 23. Februar 2017

Victor Klemperer und das Kriegsende in Unterbernbach

Ein literarisches und historisches Denkmal setzte der Dresdener Sprachwissenschaftler Victor Klemperer in seinem Buch „LTI - Notizbuch eines Philologen“ dem Dorf Unterbernbach im Wittelsbacher Land. LTI , die Lingua Tertii Imperii, arbeitet die Sprache des Dritten Reiches wissenschaftlich auf. Das Werk beruht auf den eigenen Beobachtungen und Daten, auch eine Art Tagebuch des Autors der Zeit Naziherrschaft.

Der Jude Klemperer

Als Jude, obwohl er zum christlichen Glauben konvertiert war, erhielt Victor Klemperer im Dritten Reich Berufsverbot und musste all seiner Ämter als Professor für Romanistik. Germanistik und vergleichender Literaturwissenschaft an der Universität in Dresden aufgeben. Er war einer der wenigen deutschen Juden die der Einlieferung in ein Konzentrationslager entgingen. Das Leben rettete ihm seine nichtjüdische Frau Eva. Wie die anderen, nicht deportierten Juden der Stadt, lebte er mit seiner Frau im Judenhaus in Dresden. Die wenigen Juden dort mussten den Judenstern tragen und wurden von der Gestapo ständig überwacht.


 Am 13. Februar 1945 sollten die letzten Juden und mit ihnen auch Victor Klemperer ins KZ eingeliefert werden. Der schreckliche Luftangriff auf Dresden am gleichen Tag brachte für einen Großteil der Stadtbewohner den Tod, für Victor Klemperer aber die Rettung. Im allgemeinen Chaos konnte er der Gestapo entkommen.

Nach zwölf Fluchttagen, „übervoll von Strapazen, von Hunger, von Schlaf auf nacktem Steinboden einer Bahnhofshalle, von Bomben auf den fahrenden Zug, auf den Wertesaal, in dem es endlich Essen geben sollte, von nächtlichem Wandern die zerstörte Bahnstrecke entlang, vom Waten in Bächen neben zerschmetterten Brücken, vorn Kauern in Bunkern, von Schwitzen, von Frieren und Zittern in durchnässtem Fußzeug, von Schußgarbengeknatter der Tiefflieger“, ständig in der Angst vor Kontrolle und neuerlicher Verhaftung erreichten die Flüchtlinge im April 1945 das Wittelsbacher Land.

Von Ingolstadt aus wanderte das Ehepaar Richtung Aichach, wo es entfernte Bekannte aufsuchen wollte. In all der Aufregung hat Klemperer noch Zeit für Landschaftseindrücke. Oberbayern ist für ihn ein Land der Kirchen, mit Zwiebelturm, Spitzturm und Treppengiebelturm. Die Strecke von Ingolstadt nach Aichach aber langweilte ihn. Könnte auch in Posen sein, kommentierte er launig im Tagebuch: „Nischt als Jejend“.

Zuerst strandeten sie in Inchenhofen. Ungepflasterte Dorfstraßen, im Gasthof verweigerte ihnen die Wirtin etwas zu Essen – es gebe nichts. Aber daneben speisten Soldaten. Klemperers Ehefrau Eva ging zum Bürgermeister und bekam ein Quartier bei einem Bauern zugewiesen. Der „ist das bösartigste Subjekt, dem wir auf unserer Flucht bisher begegnet sind.“ Er stellte sich stur, verweigerte selbst Waschwasser. Erst als der Ortspolizist mit „Schutzhaft“ drohte, durften die Eheleute für eine Nacht ausharren.

Danach gehen sie weiter nach Aichach – wieder kein Quartier. Sie werden in das Dorf Unterbernbach verwiesen – und hier hat der Ortsbauernführer Flamensbeck ein Einsehen. Er nimmt die Flüchtige auf.

Kriegsende in Unterbernbach

Victor Klemperer beschrieb in seinem Buch die Eindrücke seines Unterbernbacher Aufenthalts beim Zusammenbruch des Dritten Reiches.

Seit sie im beschaulichen Bernbach Unterschlupf gefunden hatten, lebte das Ehepaar Klemperer in relativer Sicherheit. „Und wirklich hatte nun die eigentliche Odyssee und die ärgste Not ein Ende.“ Die Lehrerin der Dorfschule kam Klemperer wie „eine fanatische BDM-Führerin“ vor – dabei war sie „bis zur äußersten Unvorsichtigkeit fanatische Gegnerin des 3. Reichs“. Freimütig sprach sie über das KZ Dachau, aber auch über Theresienstadt.

Die Unterbernbacher Bauern beurteilte Klemperer sehr differenziert. „Ich fand unter den Bauern von Unterbernbach große moralische Unterschiede und notierte mir reuig: „Sage nie wieder Der Bauer oder Der bayrische Bauer, denke immer an Den Polen, an Den Juden!“ Der Ortsbauernführer, der längst von seiner Liebe zur Partei abgekommen war, aber seinen Posten nicht hatte aufgeben dürfen, glich in seiner immerwährenden Hilfsbereitschaft und Wohltätigkeit für jeden Flüchtling in Zivil und Uniform haargenau einem Exemplum der Güte, wie es in der Sonntagspredigt des Pfarrers gezeichnet wurde«. Die Predigt des Ortspfarrers Dekan Josef Moll vom 22. April 1945 kennzeichnet Victor Klemperer als „ganz unangreifbar zeitlos, und doch solche Abrechnung mit den Nazis“. Hier wurde sprachlich verhüllt und trotz allem die Wahrheit ausgesprochen. „Und auf der anderen Seite der Kerl, dem wir für die erste Nacht zugewiesen waren, und der uns das Wasser zum Waschen verweigerte; die Pumpe im Stall sei entzwei (eine Lüge, wie sich nachher herausstellte), und wir sollten schauen, dass wir in Schwung kämen. Und zwischen diesen beiden Extremen so viele Abstufungen; darunter unsere Wirtsleute, dem üblen Extrem näher als dem Guten.“

„Am 28. April gingen den ganzen Tag wilde Gerüchte über die unmittelbare Nähe der Amerikaner; gegen Abend marschierte ab und zog aus, was noch an Truppeneinheiten im und beim Dorf gelegen hatte, vor allem HJ, verwilderte Jungen eher als Soldaten, dazu ein höherer Stab, der das schöne moderne Amtshaus am südlichen Ortseingang innegehabt hatte. In der Nacht gab es eine Stunde
lang schweres Artilleriefeuer, Granaten heulten über das Dorf weg. Am anderen Morgen lag auf dem Abort, in zwei Stücke zerrissen, ein kunstvoll in Schwarz und Rot beschriftetes Dokument und blieb dort mehrere Stunden liegen, da es zu dick war für seine neue Bestimmung. Es war eine unserem Wirt gehörige Eidesurkunde, Sie bezeugte, , dass „Tyroller Michel auf dem Königlichen Platz in München vor dem Stellvertreter des Führers, Rudolph Hess“ geschworen habe, „dem Führer Adolf Hitler und dessen von ihm eingesetzten Unterführern bedingungslose Treue zu leisten. München, ausgefertigt innerhalb der Traditionsgaues am 26. April 1936.

Es kamen noch ein paar unheimliche Mittagsstunden, vom Waldrand her krachte es hin und wieder. Manchmal hörte man das Pfeifen naher Gewehrkugeln, irgendwo musste noch scharmützelt
werden. Dann sah man auf einer Landstraße, die an unserem Ort vorbeiführte, einen sehr langen Zug von Panzern und Automobilen - wir waren überrollt.

Anderntags riet uns der gute Flamensbeck, dem wir wieder einmal unser Wohn- und Eßleid klagten, ins freigeworden Amtshaus umzusiedeln. Ein Eisenofen, auf dem sich Das Frühstück kochen ließe, stünde in den meisten Zimmern, Tannennudeln zum Heizen fänden wir im Walde, und zum Mittagessen für uns würde es bei ihm reichen. Noch am gleichen Nachmittag feierten wir den Einzug in unsere neue Behausung. Sie bereitete uns außer anderen Annaehmlichkeiten eine ganz besondere Freude. Eine volle Woche lang brauchten wir uns um Tannennudeln und Reisig nicht zu sorgen, wir besaßen besseres Heizmaterial. In diesem Hause nämlich hatte zu besseren Nazizeiten HJ und ähnliches Volk gewohnt, und alle Räume waren gestopft voll gewesen von schöngerahmten Hitlerbildern, von Wandsprüchen der Bewegung, von Fahnen, von hölzernen Hakenkreuzen. Alles das und das große Hakenkreuz über dem Tor und den Stürmerkasten aus dem Hausflur hatte man entfernt und auf den Boden geschafft, wo es einen riesigen wirren Haufen bildete. Neben dem Boden lag die helle Dachstube, die wir uns ausgewählt hatten, und in der wir etliche Wochen zubrachten. Die ganze erste Woche habe ich hier mit Hitlerbildern. mit Hitlerrahmen und Hakenkreuzen und Hakenkreuzfahnentuch und immer wieder mit Hitlerbildern geheizt, es war mir immer wieder eine Seligkeit.

Als dann das letzte Bild verfeuert war, sollte der Stürmerkasten dran glauben. Aber er war aus schweren dicken Brettern gezimmert, mit Fußtritten und Brachialgewalt schaffte ich es nicht. Ich fand im Haus ein kleines Handbeil und eine kleine Fuchsschwanzsäge. Ich versuchte es mit dem Beil, ich versuchte es mit der Säge. Aber der Rahmen widerstand. Das Holz war allzu dick und fest, und nach all dem Vorangegangenen vertrug mein Herz nicht mehr große Anstrengungen. „Laß uns lieber Nudeln im Wald sammeln“, sagte meine Frau, „dass ist vergnüglicher und gesünder.“ So gingen wir zu anderem Heizmaterial über, und der Stürmerkasten blieb unversehrt. Manchmal, wenn ich heute Briefe aus Bayern erhalte, muss ich daran zurück denken.....“

Aber erst am 15. Mai gibt sich Klemperer, vorsichtig wie er ist, im Dorf zu erkennen. Er wies seinen „Judenpaß“ vor. „Wir haben schon ähnliches vermutet“, lautete die Antwort.

Die Zitate stammen aus: Klemperer Victor, LTI - Notizbuch eines Philologen, Aufbau-Verlag, Berlin 1947

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